Sara Reichelt - Autorin
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sara reichelt
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Alles wie geplant

 

Er stützte sich nicht ab, er stand gerade und konnte gerade noch stehen. Er blieb stehen, anstatt sich zu setzen. Er setzte an, stockte, setzte erneut an zu seinen Sätzen. Zum Entsetzen seiner Geburtstagsgäste sprach er sein bevorstehendes Ende an, sprach es aus, ohne Versprecher, wie ein Versprechen:

«Hier bin ich und sage euch, dass ich gehen werde, gehen muss, vielleicht sogar gehen will, bevor ich nicht mehr gehen kann. Ich bin keiner, der einen Rollator vor sich herschiebt, keiner, ich bin keiner, der sich im Rollstuhl schieben lässt.

Hier bin ich noch und sage euch, dass ihr euch in wenigen Tagen, Wochen oder Monaten – ganz bestimmt nicht erst in Jahren – erneut zusammenfinden werdet, egal, ob ihr dies gut findet oder nicht, egal, ob an diesem oder an einem anderen Ort.

Ihr kommt zusammen wegen mir, aber ohne mich, obwohl ich dabei sein werde, was nicht alle von euch spüren dürften.

Hier stehe ich vor euch, obwohl ich nicht mehr lange stehen kann, nicht mehr der Schwäche widerstehen kann, nicht mehr standhaft sein kann.

Fast hätte ich mein einziges Kind gebeten, euch auszuladen, oder euch allesamt heimzuschicken, aus meinem Heim herauszuschicken, aus meinem Daheim in einem Heim, das ich bald in einer hölzernen Kiste verlassen werde.

Am Anfang wächst der Mensch, dann wachsen die Behausungen, bis sie am Ende zusammenschrumpfen, wie man selbst zusammen-schrumpft.

Das steht euch bevor, ich habe es demnächst hinter mir. Und jetzt lasst euch endlich Kaffee und Kuchen schmecken.»

 

Sechs Wochen nach seiner Rede zum 90zigsten konnte der Mann weder die Tasse heben noch die Flüssigkeit herunterschlucken. Als er die Stimme der Tochter hörte und ihre Hand spürte, lächelte er. Der Duft ihrer Creme hüllte ihn ein. Der Pfarrer salbte ihm die Stirn, die Handinnenflächen und sprach ein Gebet. Dann kam der Arzt. Er gab ihm die gewünschte Überdosis Morphium. Der Sterbende sah verjüngt, entspannt und glücklich aus. Die Tochter freute sich für ihn und saß lange neben seinem Bett. Die Angst vor seinem Ableben war verschwunden. Es war alles wie geplant gelaufen.

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© Sara Reichelt

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