Sara Reichelt - Autorin
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sara reichelt
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Was ist ein Tisch?

 

 

Er wollte eine Frau. Er bekam eine Frau, eine Psychologin. Er wollte eine Frau, aber wollte er auch eine Psychologin? Wie ist eine Liebesbeziehung mit einer Psychologin bzw. was ist so schlimm an einer Psychologin? Das fragt er sich bis heute, auch wenn er mit ihr inzwischen besser zurechtkommt.

Eine Psychologin ist eine Frau, die ungefragt alles hinterfragt, was er bisher noch nicht hinterfragte. "Ich liebe dich" zu ihr zu sagen, hat er sich fast abgewöhnt, weil sie darauf zu erwidern pflegt „Wie meinst du das?" oder „Woran machst du das fest?" oder „Was bedeutet lieben für dich?" oder „Sagst du das jetzt, weil du glaubst, dass ich es hören will oder weil du willst, dass ich es auch zu dir sage oder weil du annimmst, dass ich es hören muss, damit ich es auch zu dir sagen kann?" Darauf er: „Ich sage es, weil ich es jetzt sagen will, weil ich jetzt so empfinde." Sie: „Nur jetzt? Und morgen liebst du mich vielleicht nicht mehr?!“ Er: „Wie soll ich wissen, was morgen sein wird?!" Sie: „Wenn du mich morgen vielleicht nicht mehr liebst, dann liebst du mich nicht tief genug und dann ist es besser, dass du es mir gar nicht sagst." Er: „Jetzt könnte ich es sowieso nicht mehr sagen." Sie: „Liebst du mich oder liebst du mich nicht? Sprich mit mir! Ich liebe dich und jetzt suchen wir endlich einen Beistelltisch für dich."

Dieser Wortwechsel spielte sich nämlich bei IKEA ab, wohin sie ihn gönnerhaft begleitet hatte, ohne auf folgenden Kommentar zu verzichten:

„Auch wenn ich ein sehr intellektueller Mensch bin, gehe ich gern auch mal mit dir einkaufen."

Dieses Angebot hätte er nicht annehmen sollen, denn plötzlich fragte sie ihn: „Liebling, wodurch wird ein Tisch zum Tisch?" Er hatte zwei Kinder großgezogen, ohne mit dieser Frage konfrontiert worden zu sein und war zudem außer Training, was derartige Fragen anbelangte, weil sich seine beiden pubertierenden Sprösslinge nicht mehr mit der Erklärung der Welt, sondern mit der Erklärung der Liebe beschäftigten. Da er von seiner psychologisch geschulten Partnerin gelernt hatte, wie praktisch es ist, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten, sagte er: „Wie meinst du das?" Darauf sie: „Ich suche schon die ganze Zeit nach einer brauchbaren Definition für den Begriff TISCH." Er: „Und ich nach einem brauchbaren Tisch." Sie: „Du hast doch sicherlich eine Vorstellung davon, was ein Tisch ist oder was nicht, sonst könntest du ja auch in die Bettenabteilung gehen." Er: „Vielleicht sollte ich das ja. Ein Bett lässt sich leichter definieren und lustvoller einweihen. Entschuldige, wenn wir so weitermachen, finde ich nie einen Tisch." Sie: „Wenn du gar nicht weißt, was einen Tisch zum Tisch macht, wirst du dich damit schwertun." Er: „Ich gehe mal davon aus, dass es sich bei den vierbeinigen Gegenständen hier um Tische handelt." Sie: „Auch Betten haben mitunter vier Beine. Das entscheidende Merkmal ist, dass auf den vier oder drei oder zwei Beinen im Neunziggradwinkel dazu eine Platte befestigt ist. Wie findest du die Definition?" Er: „Schau mal her. Hier ist ein Tisch, unter den zwei weitere Tische geschoben worden sind, die man bei Bedarf herausziehen kann. Kannst du dir das in meinem Wohnzimmer vorstellen?" Sie: „Drei Tische als ein Tisch? Das wird mir allmählich zu kompliziert. Aber kauf die Tische ruhig, dann können wir endlich gehen. Einkaufen ist doch ziemlich langweilig, findest du nicht?" Darauf antwortete er ihr nichts und beschloss, eines seiner Kinder mitzunehmen, wenn er das nächste Mal zu IKEA fahren müsste. Er sagte nur: „Jetzt brauche ich leider noch Gästehandtücher." Sie: „Wieso gibt es eigentlich Gästehandtücher?" Er zog sie kommentarlos in die Handtuchabteilung. Er: „Wenn wir fertig sind, gehen wir noch in die Cafeteria, ja? Ich habe Durst und muss dringend aufs Klo." Sie: „Könnte es sein, dass man sich selbst für schmutzig hält oder dass man das von den Gästen annimmt oder annimmt, dass die Gäste das annehmen könnten, wenn man keine Gästehandtücher hätte?“ Er: „Ich nehme schwarze." Sie: „Da sieht man den Schmutz ohnehin nicht.“ Er: „Das ist ja das Praktische daran.“ Sie: „Lassen wir das, ich bekomme allmählich Hunger. Aber nicht nach IKEA-Kost. Eher nach dir … Kommst du nach dem Einkaufen mit zu mir?“ Er: „Aber klar! Irgendwie liebe ich dich doch.“

 

 

 

 

 

 

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© Sara Reichelt

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