Sara Reichelt - Autorin
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sara reichelt
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HARTE HÄNDE   (aus dem Buch  KLAVIATUR DER MÖGLICKEITEN)

 

 

Der beste Ort in der Küche des Großvaters war der Brotkasten. Dort wurde Nougatschokolade von Ritter Sport aufbewahrt. Falls die Enkelin beim Domino gewonnen hatte, durfte sie sich eine Tafel aussuchen. Wenn der Opa nicht daran dachte, erinnerte sie ihn daran. Auf dem Büfett lagen getrocknete Feigen und viele Tablettenschachteln. Am Waschbecken befan den sich Bimsstein, Pinsel und Seife. Der Großvater rasierte sich jeden Morgen und hielt seinen Kopf unter kaltes Wasser. Danach zog er sich an, nahm seinen Gehstock, drehte eine Runde durch den Garten. Barfuß. Auch im Winter. Dadurch wollte er hundert Jahre alt werden. Er ging ins Wohnzimmer zurück, öffnete die Fensterläden und setzte sich auf den Ohrensessel. Manchmal machte er ein Nickerchen. Wenn Gabi bei ihm war, musste sie mucks mäuschenstill sein. Später las er ihr Geschichten aus einem dunkelblauen, schweren, bebilderten Buch vor. Ihr Lieblings märchen handelte von einem jungen Mann, der eine Prinzes sin heiraten wollte und dafür eine Probe bestehen musste. Bestünde er sie nicht, würden ihm, wie allen Kandidaten vor ihm, eine Glatze rasiert. Er wurde gemeinsam mit zwei anderen Bewerbern in einen fensterlosen Raum geführt. Des sen Wände waren mit rotem Samt bespannt. An einer Wand streckten sich den Männern drei Paar Hände entgegen. Eines war abgearbeitet und hatte eine harte, rissige Haut, eines war unversehrt und glatt und eines hatte Finger, an denen Gold ringe mit Brillanten steckten. Die Bewerber sollten unter den drei Händepaaren das Interessanteste aussuchen. Der eine entschied sich für die Jugend, der zweite für den Reich tum. Der dritte überlegte lange. Er wusste, dass es eine Prüfung war. Und er mochte alte Frauen. Er wählte die harten Hände aus, weil sie ihn an seine Oma erinnerten. Nach einer halben Stunde erschien die Großmutter der Prinzessin und sagte, der er der Gewinner sei und die Prinzessin ihn kennen lernen wolle. Wie es weiterging, interessierte Gabi nicht. Sie dachte an ihren Opa. Und fand die Entscheidung für die harten Hände richtig.  Im Wohnraum des Großvaters stand ein Kachelofen. In der Mitte war ein riesiger Tisch mit einer roten Wachstuchdecke, die an den Enden festgeklemmt war. Manchmal kletterte die Enkelin auf den Tisch und schaute sich die Bilder des Mär- chenbuchs an. Sie wollte ganz schnell in die Schule kommen, um dem Großvater eines Tages selbst vorlesen zu können. Als sie lesen konnte, war der Großvater plötzlich nicht mehr da. Ihre Eltern sagten, er sei eingeschlafen und nicht mehr auf gewacht. Sie traute sich nicht, in sein Schlafzimmer zu gehen, weil sie vor einem Großvater im Dornröschenschlaf Angst hatte. An den Geburtstagen hatte der Opa Freunde zu Besuch und den Pfarrer. Es roch im ganzen Haus nach Linsen und Mehl klößen mit gerösteten Zwiebeln. Der Großvater aß mit seinen Gästen um die Wette so viele Mehlspatzen, dass Gabis Mutter sagte: „Eines Tages platzt er. Hoffentlich!“ Am besten ging es der Enkelin beim Großvater, wenn sie mit der Mutter gestritten hatte und sich zu ihm flüchten konnte. Kam die Mutter ins Wohnzimmer und sah die böse Toch ter mit ihrem Schwiegervater Dominospielen, hatte sie eine große Wut auf ihn. Auch auf das Kind. Zu allen anderen in der Familie war der Großvater tyrannisch. Er rief oft donnernd nach seiner Schwiegertochter, wenn er etwas brauchte. Und er brauchte viel. Meistens musste sie daraufhin zur Apotheke rennen oder frisches Obst holen. Auch zu seiner Enkelin war er manchmal etwas streng, besonders wenn er bei Sommerwetter auf seinem grünen Holzklappstuhl im Garten saß und sie im Sandkasten beauf sichtigte. Er beobachtete sie dabei, wie sie mit bunten Förmchen Fische, Herzen, Seepferdchen oder Sterne buk. Sterne waren wegen der Zacken die größte Herausforderung. Wenn ein wenig Sand im Förmchen hängenblieb und der Stern keine spitzen Zacken hatte, zerstörte der Großvater das Werk direkt mit seinem Stock. Er schrie: „Das war nichts! Mach es bes ser!“ Gabi versuchte es erneut und erneut und erneut. Wenn es nach dem vierten Versuch nicht geklappt hatte, rannte sie heulend zu ihrem Halbbruder Hans, der den Alten hasste und sein Schwesterherz in den Arm nahm. Oft hörten sie eine Langspielplatte mit dem Dschungelbuch. Gabi war Mogli, das Menschenkind, Hans Balu, der Bär. Die Verlobte von Hans war Kaa, die Schlange, weil sie oft log. Das sagte jedenfalls Gabis Mutter. Der Opa war manchmal wie Shir Khan, aber Gabi hatte keine Angst vor ihm.

 

 

 

 

 

 

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