NACHSAISON
Die Früchte der Feigenkakteenstacheln in ihrer Zunge, in der Haut ihrer Hände. Sie friert, wenn die Sonne verschwindet. Sie verlässt die Straße, um den direkteren und steileren Weg zum Kloster zu nehmen. Steine rutschen unter ihren Füßen weg. Es ist ein kleiner Anstieg. Zu kurz und zu einfach, um das Abnehmen ihrer Kräfte zu spüren.
Sie ist oben angekommen. Dort könnte sie sich ein Zimmer nehmen. Ohne Warmwasser, ohne Dusche. Im Kloster wohnt die Stille. Niemand, der sie kennt, ist dort. Niemand, der etwas von ihr erwartet oder fordert. Vor allem kein Alexander. Höchstens der Zwang zu beten. Ein junger Mann in Mönchskutte schickt sie auf die Terrasse.
«Beautiful Panorama … Pepsi, Fanta, Sprite!»
Sie schaut auf die Büsche, auf deren Zweigen sich leere Blechdosen sonnen. Unter ihr liegt das Meer mit grauem Wasser, in der Ferne sieht sie die Start- und Landebahnen des Flughafens.
Alexander hätte es nicht geschafft, den Hügel hochzulaufen. Sie erinnert sich an einen Spaziergang mit ihm. Er blieb plötzlich stehen, stützte sich auf einem geparkten Wagen auf und sagte leise: «Bitte warte! Ich kann nicht mehr.» Auch an ihre gemeinsamen Partybesuche denkt sie, als er während des Tanzens stürzte und angeblich nur ausgerutscht war. Gern hätte sie ihm das geglaubt. Jedoch sie wusste von seiner Krankheit. Ein einziges Mal hatte er mit ihr darüber gesprochen. Auch darüber, dass es keine Heilung gibt. Nur die Hoffnung, dass die Verschlechterung seines Zustands hinausgezögert werden kann. Durch Spritzen, die ihm ein Bekannter seiner verstorbenen Eltern abwechselnd in die eine oder in die andere Pobacke knallt, Spritzen mit einer in der EU nicht zugelassenen Substanz. Und dass dieser Hobby-Forscher und ehemalige Arzt zu seiner Tochter nach Austin ziehen wird, um familiär umhüllt seinen Leib zu verlassen. Das Sprechen über seine Situation fiel Alexander schwer. Sie hatte ihn zur Rede gestellt. Und sich damit zu einer Eingeweihten gemacht, zu einer Mitwisserin, zu einer, die Rücksicht nehmen muss.
«Bist du eine Reinkarnation von Stephen Hawking?»
«Danke für das Kompliment. Ich bin nur ein Chaosforscher mit einem IQ unter 160. Außerdem entwickelt sich jede Amyotrophe Lateralsklerose anders. Auf jeden Fall im Anfangsstadium.»
«Solange du den Namen deiner Krankheit so mühelos über die Lippen bringst, ist alles im grünen Bereich.»
«Haha. Carolin, wenn ich irgendwann nur noch A … L … S lalle und dabei sabbere, begleitest du mich in die Schweiz. Okay?»
Nachdem sie die Diagnose erfahren und sich im Internet über seine Krankheit informiert hatte, beobachtete sie seine Bewegungsabläufe und seine Sprache. Plötzlich fiel ihr auf, dass er sich beim Aufstehen abstützte, dass er sich beim Treppensteigen am Geländer hochzog. Und wie häufig ihm Dinge aus der Hand fielen, wie oft er Flüssigkeiten verschüttete.
Sie konnte ihm nichts vorwerfen, doch sie begann, seine Schusseligkeiten zu verabscheuen. Auch seine wachsende Schwäche. Ein wenig hasste sie sich selbst dafür. Auch dafür, dass sie ihn ständig betrachtete, als ob sie weitere ALS-Symptome entdecken wollte. Er hatte sich ihr offenbart; er hatte ihr die Unausweichlichkeit seiner Krankheit anvertraut, die zur Unausweichlichkeit ihrer Freundschaft geführt hat. Zu Momenten, in denen sie ihn dafür verachtete, dass er sie durch das Gestehen der Diagnose angebunden hatte.
Mit Alexander für zwei Wochen nach Samos zu fliegen, um den Abschluss seines Physikstudiums mit einem «Sehr gut» zu feiern, war ihre Idee gewesen. Oft hatte sie zu anderen und auch zu ihm, gesagt: «Wenn ich eine Freundschaft oder Affäre oder eine Partnerschaft beenden will, reicht es aus, miteinander Urlaub zu machen. Und auf engem Raum mehr als eine Woche am Stück zu verbringen. In einem Doppelzimmer würden auch drei Tage reichen.»
Alexander hatte darüber gelacht. Sie hatten sich gegenseitig erzählt, mit welchen Leuten sie sich an welchen Orten entzweit hatten. Sich selbst schlossen sie dabei aus. Sie hielten viel von ihrer Freundschaft und viel voneinander. Trotzdem wuchs Carolins Unbehagen. In den Tagen vor der Abreise wollte sie Alexander nicht sehen. Auch, weil er sich erkältet und das letzte Telefonat zerhustet hatte.
Für ihre zwei Wochen auf der Insel hatten sie ein Apartment mit zwei getrennten Betten in einem einzigen Raum gebucht. Sie war Alexanders Schniefen, Husten und Schnarchen chancenlos ausgeliefert. Und sie ertrug es nicht gut, andere Wesen neben sich atmen zu hören. Den Schlaf von anderen erlebte sie als bedrohlich, wenn er in demselben Raum stattfindet. Durch den Schlaf entglitten ihr die anderen und spannen sie in die Verpflichtung ein, keine Geräusche und kein Licht zu machen. So verbrachte sie zu viele Nächte. Eingekerkert im Schlaf der anderen. Und zum Wachsein verdammt.
Sie hat sich in keine Mönchszelle für Touristen eingecheckt. Sie entfernt sich vom Kloster. Sie läuft nicht die Straße hinunter in den Ort. Stattdessen steigt sie den Hügel weiter hoch zu einigen Ruinen. Die Sonne ist umwölkt, kein Mensch ist zu sehen. In der Ferne ein paar verlassene Höfe. Ihre Kehle ist trocken. Sie sieht einen circa Fünfzigjährigen, fragt ihn auf Englisch, wo man etwas zu trinken kaufen kann.
«Im Kloster gibt es was», antwortet er auf Deutsch.
«Dort bin ich schon gewesen. Ich will in den Ort herunterlaufen.»
Der Mann trägt Badeschlappen, einen Bauch und halblange Hosen. Alles Sichtbare an ihm ist braun gebrannt und fleischig. Er ist schlägt vor, gemeinsam zurückzuwandern.
«Wenn wir da sind, lade ich Sie zu einem Ouzo ein!»
Sie klettern über Geröll. Er voraus, sie ihm nach.
«So hält mein Körper Sie auf, wenn sie stürzen...»
Sie lacht. Sie sieht sich auf den Bauch des Mannes fallen und ihn umwerfen. Der ächzt langsam vor ihr her. Manchmal dreht er sich nach ihr um und macht eine Pause. Auf der Straße läuft sie neben ihm und glaubt, dass es lächerlich aussieht: Eine drahtige Mitte Zwanzigjährige und daneben zwei Zahnstocher, die ein Fass tragen. Wenn Alexander sie so sähe, wäre er gekränkt. Vielleicht.
«Und wie halten Sie es aus, zwei Wochen ohne Ihren Freund?» fragt sie das Fass auf zwei Zahnstochern.
«Ich brauche keinen Partner, übrigens auch keine Partnerin.»
«Vielleicht ist der Richtige noch nicht gekommen. Geben Sie es nicht auf! So hässlich sind Sie doch nicht.»
«Das sagt der Richtige … Was treiben Sie eigentlich alleine auf Samos?»
«Ich erhole mich von meiner Frau.»
«Und baggern gleichzeitig eine fremde Touristin an … «
«Wenn man wird ja noch freundlich sein dürfen.»
Der Mann folgt ihr in die Taverne, wo sie mit Alexander in den letzten Tagen saß. Dort hatten sie über die Zukunft gesprochen.
«Ziehen wir zusammen in eine barrierefreie Wohnung?», fragte Alexander sie. Sie hätte «Nein» sagen können, weil sie «Nein» fühlte. Sie sagte stattdessen: «Wir werden sehen.»
«Schön, dass du so positiv reagierst. Wenn ich die Zusage für meine Doktorandenstelle habe, mieten wir uns in Erlangen eine Vierzimmerwohnung. Und glaub bloß nicht, dass du mich pflegen musst.»
«So weit ist es hoffentlich noch lange nicht, Alex.»
«In vier Wochen bekomme ich die letzte Spritze. Ab dann geht es steiler bergab. Es weiß niemand, wie schnell.»
Beim «Poseidon» ist die Terrasse leer. Der Gott des Meeres hat bald seine Ruhe. Das rebellisch gewordene Meer zieht keine Fremdlinge mehr an. Die meisten Fischerkähne schlummern schon auf feuchtem Sand. Wegen des Windes muss sie drinnen sitzen. Der schwitzende Deutsche, der einen sitzen hat, will im Freien essen. Da er im Gegensatz zu ihr ungern allein ist, setzt sie sich durch.
«Der Ouzu geht auf mich. Den Rest teilen wir», sagt er.
«Ich trinke Wasser und brauche kein rundes Männchen, das mich einlädt.»
«Das war aber frech.»
«Ja! Und ich bin so frei und setze mich nun an einen anderen Tisch. Möchte nachdenken und meine Messages checken.»
«Haben Sie Liebeskummer?»
«Nein. Lassen Sie mich bitte endlich in Ruhe!»
Sie bestellt sich einen griechischen Salat mit viel Weißbrot und ein kleines Glas Mineralwasser ohne Eis. Der Kellner bringt ihr ein großes Wasser mit Eis. Sie nimmt die Würfel heraus und wirft sie unter den Tisch. Alexander würde grinsen und «Entsorg das Eis besser draußen in den Blumenkübeln!» sagen. Oder sie würden über theoretische und angewandte Chaostheorie sprechen. Über seine Forschungen und über ihr kürzlich beendetes polyamouröses Chaos mit einem verheirateten Mann und einem Kommilitonen. Und sich eine gemischte Grillplatte oder ein Moussaka teilen.
Sie schaltet ihr Smartphone an. Kein Anruf von Alexander, keine Nachricht, keine E-Mail. Sie hat keine Lust, ihn zu schreiben. Eine Entschuldigung wäre ihr zu banal. Er würde sie eh nicht annehmen. Sie ruft ihn an. «Der Teilnehmer ist aktuell nicht erreichbar.» Das ausgeschaltete Handy könnte das Schlimmste bedeuten oder auch nichts.
Das Frühstück in der Ferienwohnung war in einen Scherbenhaufen ausgeartet. Alexander hatte das Tablett mit den gefüllten Kaffeetassen und der offenen Tüte Milch fallen lassen. Und fiel hinterher. Sie zog ihn hoch und half ihm auf einen Stuhl. Daraufhin kehrte sie die Scherben weg, wischte mit Handtüchern die hellbraune Lache auf.
«Wir machen es uns heute zu Hause gemütlich, Carolin. Das Wetter ist mies und der Aufzug noch kaputt», sagte Alexander.
«Wir? Ich. Brauche. Bewegung. Kriege hier sonst einen Lagerkoller.»
«Echt jetzt?! Wie kannst du so rücksichtslos sein! Ich kann nichts dafür, dass ich die vier Etagen kaum schaffe.»
«Ich auch nicht, Alex. Du wirst weder verdursten noch verhungern. Wasser ist da. Auch drei Äpfel, Pasta, Nudelsoße, Weißbrot, zwei Tomaten, Oliven, eine halbe Gurke. Genieß doch die Zeit für dich allein! Du hast Internet. Und dein Kindle.»
«Carolin, so geht das nicht! Du weißt, was mit mir los ist.»
«Das weiß ich. Wenn ich du wäre, würde ich mich umbringen.»
Sie schnappte sich Smartphone und Portemonnaie, band sich eine Jacke um und stürzte aus der Ferienwohnung.
Sie ruft den Kellner, der in einer Ecke auf seinem Handy herumwischt. Vielleicht tindert er auf Griechisch. «Gibt es TINDER auf Griechisch?» gibt sie bei Google Chrome ein und bekommt keine brauchbare Antwort. Sie ärgert sich darüber, dass sie die Zeit mit so etwas verplempert. Wahrscheinlich spielt der Kellner Candy Crash oder guckt sich Fotos seines ersten Enkels an. Oder seines letzten Hundes. Endlich liegt die Rechnung auf dem Tisch. Sie legt einen Zwanzigeuroschein hin. Auf das Wechselgeld zu warten, hat sie keine Lust. Ums Eck sieht sie den grauen Bau, der in die Landschaft hineingeklotzt wurde. In ein paar Apartments brennt Licht. Im vierten Stock nicht. Alexander hört oft im Dunkeln Podcasts. Und schläft manchmal dabei ein. Sie weiß, dass es vorbei ist, dass er ihr nie verzeihen wird. Und dass sie nun frei ist. Auch wenn sie ihren Gefährten und einstigen Klassenkameraden vermissen wird.
Ohne außer Atem zu geraten, steigt sie die Stockwerke hoch. Die Wohnungstür ist abgesperrt. Als sie das Licht angeschaltet hat, bleibt alles still. Alexander ist nicht da, es liegt kein Kram mehr von ihm herum. Auch im Schrank und im Bad ist nichts mehr von ihm. Noch nicht einmal ein Zettel mit einer Erklärung liegt irgendwo. Sie sieht Alexander auf einer Klippe stehen, wenn er es bis dahin geschafft haben sollte. Mit einem Taxi vielleicht. Sie überlegt, wie er sich ansonsten umbringen könnte. In einem Hotelzimmer mit Wannenbad. Sich die Pulsadern aufschneiden. Und zuschauen, bis das Leben aus ihm herausläuft. Das traut sie ihm nicht zu. Dafür wäre er zu rücksichtsvoll. Er würde diesen Anblick nicht dem Zimmerservice zumuten. Lieber ins Meer springen. Und irgendwann als aufgedunsener Körper herausgefischt werden. Bis dahin würde er für vermisst erklärt werden. Was müsste sie tun, wenn Alexander nicht mehr auftauchte? Was sollte sie den gemeinsamen Freunden und Alexanders Familie erzählen? Bestimmt nichts über den Streit mit ihm. Nichts von dem, was sie zu ihm gesagt hat. Sie könnte erfinden, dass Alexander in sich gekehrt und passiv gewesen sei. Das er häufig erwähnt habe, dass er sich wegen seiner Krankheit, die schlimmer werden würde, keine Zukunft vorstellen möchte. Das er zu nichts mehr Lust habe, nicht wisse, wie es weitergehen solle.
«Wenn ich du wäre, würde ich mich umbringen» war kein böser Satz. Es war eine Aussage darüber, wie sie in einer ähnlichen Lagen reagieren würde. Vielleicht hatte Alexander überreagiert. Oder er benutzte den Satz als Vorwand, um die Freundschaft zu beenden. Weil er spürte, dass sie ihn schlechter ertrug und keinen gemeinsamen Alltag mit ihm wollte. Egal. Wahrscheinlich hat er den Rückflug umgebucht. Hängt am Flughafen rum. Oder sitzt schon im Flugzeug. Und meldet sich aus Rache nicht bei ihr. Sie solle sich schlechtfühlen, sich schämen, sich Sorgen um ihn machen.
Mit diesem Gedanken geht es ihr besser. Sie legt sich aufs Sofa, schläft so tief und lange wie seit Tagen nicht. Am kommenden Tag wird sie von ihrem Smartphone geweckt.
«Liebe Carolin, hoffentlich hast du dich ausgetobt. Danke übrigens für den Tipp! Wollte mich tatsächlich vom Balkon stürzen. Kurz davor rief Dr. Willi Späth an. Die Spritze war nur ein Placebo. Das erwartete ALS-Medikament AMX0035 wurde in den USA zugelassen. Ich fliege in einem Monat zu Willi nach Austin. Sein Leib lässt ihn noch nicht gehen. Auch ich bleibe noch eine Weile da. Alles Gute für dich und danke für unsere lange Freundschaft. Dein Alex.»
Eine Antwort erübrigt sich. Sie weiß nicht, ob sie erleichtert ist. Auf jeden Fall braucht sie niemanden Alexanders Verschwinden zu erklären. Vielleicht taucht er eines Tages von selbst wieder in ihrem Leben auf. Wie die meisten anderen, mit denen sie sich während gemeinsamer Urlaube und bei anderen Gelegenheiten überworfen hat.
Fünf Tage auf der Insel bis zu ihrem Rückflug liegen nackt vor ihr. Sie hat keine Lust mehr zu wandern. Zum Baden ist es zu kühl. Das fast leere Apartment und die ungestörten Nächte machen sie glücklich.