- Laufen lernen ist ein nahezu natürlicher Vorgang, sagten die einen.
- Laufen muss gelernt werden, sagten die anderen.
- Wer oder was läuft oder nicht läuft, ist eine Frage des Marktes.
Es war einmal ein neugeborenes Buch, das nicht laufen lernte. Es war nicht in der Lage zu laufen, weil seine Schöpferin unbekannt war, bekam es zu hören. Zudem würden gedruckte Bücher heutzutage eh immer schlechter laufen, woran weder es selbst noch seine Erzeugerin Schuld wären. Womöglich würde es mit einem anderen Titel oder gar in Kombination mit einer Tangomusik-CD besser laufen lernen, wurde dem Buch und dessen Schöpferin mitgeteilt.
- Dann nennt mich doch „Buchstabentango“, sagte das Urbuch zu den Meistern der Bücherwelt.
- Du bist zwar kein Tango, aber dieser Titel könnte bei potenziellen Lesern tatsächlich gut ankommen. Dennoch wirst du nicht laufen.
- Ich verstehe das alles nicht. Warum reichen in Worte gegossene Gedanken nicht mehr aus, um zu laufen? wunderte es sich.
- Die Zeiten haben sich geändert. Zumindest hier in Deutschland. Vielleicht wäre es in Buenos Aires für dich einfacher mit dem Laufen. Nur dafür müsstest du erst ins Spanische übersetzt werden, sagten die Meister des Literaturbetriebs.
- Bei dem Gedanken an eine derartige Verwandlung wird mir schwindelig. Andererseits würde ich gerne gemeinsam mit vielen Klonen meiner selbst in einer der unzähligen Buchhandlungen der Avenida Corrientes liegen oder stehen.
- Träume weiter liebes Buch, aber so wird das nichts!
- Was läuft denn so im Moment? insistierte das Buch.
- Französische Gedichte laufen, doch nur, wenn sie bei einer Kulturveranstaltung mit einem Drei-Sterne-Menü und Wein kombiniert werden.
- Was hat denn Essen und Trinken inhaltlich mit französischen oder sonstigen Gedichten zu tun?
- Auf die Inhalte kommt es immer weniger an, sondern auf die Verpackung
- Dann verpackt mich eben gemeinsam mit argentinischem Tango, so dass ich mit ihm oder neben ihm herlaufe.
- Das könnten wir versuchen, denn Musik ist für viele leichter zugänglich als das Wort.
- Das habe ich nicht gewusst, meinte das Buch Nummer eins und schloss erstaunt seinen Deckel.
DER TRAUM VOM SEIL
In der Nacht darauf habe ich geträumt, dass ich mich in ein dickes Seil verwandelt habe. So hänge ich herab von der Decke eines der Buchläden meiner Stadt, wo ich gerne einen Platz finden würde. Da Sprache, meine eigene und die der anderen, im Grunde das einzige ist, was mich tiefer berührt, habe ich mir nach dem Erwachen das Seil direkt als „S“ „E“ „I“ L“ vorgestellt. Um mir meinen sonderbaren Traum selbst zu erklären, bilde ich aus den vorhandenen Buchstaben immer neue Wörter, ohne mir einen Reim darauf machen zu können. So verbringe ich viele Stunden, bis ich plötzlich beim Denken die Richtung wechsle und endlich die Buchstaben von „SEIL“ von rechts nach links betrachte.
Ich schreie vor Freude: „LIES“