Sara Reichelt - Autorin
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sara reichelt
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[Jennifer] ​ Lehne am Rückenteil vom Doppelbett und scrolle durch die Wohnungsangebote auf ImmoScout24. Ein überteuerter Wahnwitz nach dem anderen. Gerade innerhalb der Ringbahn. Suche was Zentrales. Keinen Bock mehr, mir an einer Haltestelle die Beine in den Bauch zu stehen. Wie hier, wo man ohne Bus nicht vom Fleck kommt. Neukölln wäre was. Ist auf dem aufsteigenden Ast. In der Nähe vom Tempelhofer Feld hüpfen immer mehr Typen rum, die eine Uni schon mal von innen gesehen haben. Alle geklont. Finden sich megacool. Sehen montags nicht mehr wie ausgekotzt aus, weil die Clubs noch dicht sind. Gibt fast nur Angebote mit Tauschwohnungen. Null Chance. Kann Charles nicht rausschmeißen. Er blecht für die Miete. Scrolle weiter.

"Kernsanierte Altbauwohnung im Schillerkiez: 65 qm, 2 helle Zimmer, Einbauküche, Duschkabine u. Wanne, provisionsfrei, € 1235 Kaltmiete, ab 1.5.2021"

Wow, wie für mich gemacht. Muss ich mir schnappen. Die Anzeige ist von privat, von einer Frau  Steimatzky. Was das wohl für eine ist? Die Eigentümer vermieten ihre Buden an Typen wie sie selbst. Meistens so ein Mittelschichtspack, mindestens mit Abi. Auf Xing eine Katharina Steimatzky entdeckt. Übersetzerin. Spanisch und Französisch. Und eine Homepage hat die  auch. Wenn ich Dusel habe, hat die noch nie was vermietet. Ein leichter Fang, wenn sie es ist. Müsste aber gutes Deutsch mit der sprechen. Falls die mich einlädt, gucke ich mir alles genauer an. Je mehr ich weiß, desto besser. Haue in das Kontaktformular:

Projektleiterin (Marketing/Deutsche Bahn), Single, 33 Jahre, wünscht Besichtigungstermin. Gruß Jennifer Ziegler.

Eine Führungskraft hat selbstverständlich keine Zeit für einen langen Text. Bin seit Monaten auf der Suche. Die letzten acht Besichtigungen mit FFP2-Maske, Schnelltest und Mindestabstand waren der blanke Horror. Die Eigentümer hatten Angst. Nicht nur vor Corona. Auch davor, dass die Miete nicht eintrudelt. Es hat eine Absage nach der anderen gehagelt. Bin gespannt, ob die Steimatzky auf mich reinfällt. Voll gut, dass ich in der Schule Theater gespielt habe. Bei den Weihnachtsaufführungen war ich meistens ein Engel. Habe wohl so ausgesehen. Die Goldflügel liegen in der Mittenwalder Straße bei meiner Alten im Keller. Die Flügel vom gefallenen Engel. Aber gestutzt sind sie nicht.

 

[Katharina] Es ist kaum zu fassen. Kurz nachdem die Annonce auf ImmoScout24 online gegangen war, segelten im Zehnminuten-Takt Anfragen herein. Die meisten auf Englisch oder Google-Translate-Deutsch. Selbstbeweihräuchernd wie Zuschriften auf Kontaktanzeigen. Standardbewerbungen nach dem Gießkannenprinzip. Hipsterhaft locker, überbordendend liebenswürdig von Creativity Managers, Cloud Software Engineers, Technical Consultants, Financial Planners, Software Developers, Executive Assistants und Product Designers. Die meisten in den Dreißigern. Ruhige, ordentliche, smarte, offene, nichtrauchende Typen ohne eine schwarze Mamba oder andere Haustiere. Typen, die vegetarisch oder vegan kochen, übers Tempelhofer Feld skaten, surfen, kiten oder Stand Up paddeln, bouldern, gerne reisen, die meine Wohnung brauchen – als Upgrade für die Lebensqualität – und die es grandios fänden, wenn sie eine zeitnahe Chance bekämen, jenes helle Objekt der Begierde aus der Nähe zu betrachten.  Ich fühlte mich überfordert, fing immer wieder von vorne mit der Auswahl an, überlegte mir, welche Kriterien meine Bekannten hätten oder ein Makler, den ich mir nicht leisten könnte. Schließlich warf ich die Pärchen raus, auch alle Zweier-WGs, warf nur kurze Blicke in die ellenlangen englischen Bewerbungen, verwarf alle Zuschriften mit GoogleTranslate. Es blieben trotzdem zu viele Interessent*innen übrig. Vielleicht hätte ich doch selbst einziehen sollen. Ich bereute es fast, meine erste und einzige Immobilie zu vermieten, aber entschieden ist entschieden. Man wächst an den Herausforderungen. Nach stundenlangem Hin und Her lud ich eine deutsche Projektleiterin zu einem Besichtigungstermin ein, ebenso eine Kolumbianerin, die sich für ihr schlechtes Englisch und kaum vorhandenes Deutsch entschuldigte und einen DJ aus Georgien, weil ich nach der Pandemie für ein paar Wochen nach Tiflis möchte, und er mir bestimmt ein paar angesagte Techno-Clubs empfehlen könnte. 

Immer wieder laufe ich in der leeren Wohnung, die noch Farbe ausschwitzt, auf und ab. Die erste Interessentin klingelt überpünktlich. Als ich die Tür öffne, kollidiere ich fast mit einer Säule von Frau. Sie trägt eine eng geschnittene schwarze Hose, in die eine weiße Bluse hineingestopft ist. Der Bauch wölbt sich über dem Hosenbund, als ob sie schwanger wäre. Ihre Haut glänzt und ist rötlich, ähnlich wie ihre Locken. Hinter ihrer weißen Maske atmet sie hörbar...

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© Sara Reichelt

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