Unbeschreiblich
Während der Sommerferien ging Maria an heißen, dickflüssigen Nachmittagen oft in eine Buchhandlung. Sie nahm sich ein Buch und setzte sich in die Leseecke. Die Besitzerin des Ladens ließ sie gewähren; es störte sie nicht, dass die junge Frau noch nie etwas gekauft hatte.
„Was wirst du tun, wenn du alles, was dich interessiert, gelesen hast?", fragte sie Maria.
„Warten, bis neue Bücher im Regal stehen."
„Wenn du willst, kannst du nach Ladenschluss mit mir nach Hause gehen und dir einige meiner Bände ausleihen."
„Gleich heute?"
„Wenn du es willst."
Maria dachte an das Buch, das sie gerade las. In diesem Moment gestand sie sich ein, dass sie nicht nur wegen der Lektüre kam, sondern auch wegen der Inhaberin. Immer wieder unterbrach Maria das Lesen für einige Momente, um die Frau dabei zu beobachten, wie sie einen Band an den richtigen Platz ins Regal zurückstellte oder für eine Kundin ein Buch heraussuchte. Durch die Telefonate im Buchladen wusste sie ihren Namen und kannte ihr Lachen. Um 19 Uhr verließ Maria gemeinsam mit ihr den Laden.
„Ich wohne ganz in der Nähe", sagte die Frau und legte den Arm um Maria. Schweigend liefen sie im Gleichschritt neben-einander. Vor einem renovierten Altbau blieb die Frau stehen.
„Hier lebe ich mit meiner Lebensgefährtin und ihrem fünfjährigen Kind."
„Es ist spät geworden. Ich möchte mir die Bücher lieber ein anderes Mal ansehen“, sagte Maria.
„Komm mit! Die beiden machen im Moment gemeinsam Urlaub an der Ostsee."
Die Frau führte Maria in ein riesiges Wohnzimmer mit Stuckdecke und Parkett, in dem keinerlei Kinderspielsachen herum-lagen. Als hätte jemand vorher alles weggeräumt. Eine ganze Wand bestand von oben bis unten aus Bücherregalen. Die Vielzahl der Titel erschlug Maria beinahe. Die Frau nahm sie an der Hand und sie gingen in einen anderen Raum.
„Meine erotische Literatur steht in unserem Schlafzimmer."
Sie gab Maria ein zerfleddertes Taschenbuch.
„Du kannst es später mitnehmen. Es ist das erste Buch, das ich vor vielen Jahren zum Thema Frauenliebe gelesen habe. Es hat mich damals sehr beeindruckt."
Ohne irgendeine Frage zu stellen, zog die Frau sich Hose und T-Shirt aus.
„Und wenn sie spontan früher zurückkommen? Die
Ostsee ist nur ein paar Autostunden entfernt.“
„Das ist äußerst unwahrscheinlich. Heute Morgen waren sie noch glücklich am Meer … Magst du nicht auch deine Klamotten loswerden?", sagte die Frau und legte sich nackt ins
Bett.
„Warum?“
„Seit du das erste Mal in meinen Laden kamst, war mir klar, wonach du suchst."
„Dieser Satz hätte auch in einem der Bücher stehen können, die ich in den letzten Monaten gelesen habe“, sagte Maria und legte sich neben die Frau.
„Was wir gleich miteinander tun werden, hat wenig mit Sprache zu tun, höchstens mit Körpersprache."
„Nur das Unbeschreibliche lohnt, beschrieben zu
werden."
„Du hast zu viel gelesen", sagte die Frau und küsste Maria.
„An welchen Roman hast du gerade gedacht?", fragte sie.
„An keinen. Ich habe mich gefragt, ob du die Bücher, die du deinen Kundinnen empfiehlst, selbst gelesen hast."
„Die meisten ja. Sei jetzt bitte still."
Die Hände der Frau äHstreichelten Maria Haupt- und Nebensätze auf den Rücken und über die Oberschenkel. Die Küsse versahen die Satzgebilde mit Ausrufezeichen und Punkten. Alles, was Maria bisher gelesen hatte, wirbelte in ihrem Kopf herum und flog als schwarze Wolke aus Druckbuchstaben durch das geöffnete Schlafzimmerfenster in die milde Augustnacht. Maria versank in der feucht schimmernden Haut der Frau, wie nie zuvor in einem Buch. Sie wollte nicht mehr auftauchen. Sie wollte sich in sie verwandeln. Früher hatte sich Maria oft vor dem Einschlafen vorgestellt, am nächsten Morgen aufzuwachen und nicht mehr sie selbst zu sein, sondern eine Figur aus dem Buch, das sie gerade las.
„Woran denkst du?“, fragte die Frau und deckte sich zu.
„Ich denke, dass es sehr schön ist … mit dir …“
„Das freut mich. Mit dir auch. Aber jetzt zieh dich an und geh bitte nach Hause.“
„Gleich?"
„Ja …, auch wenn es mir schwerfällt. Küss mich!“
„Gerne und dann …“
„Dann werde ich aufstehen und dich zur Tür begleiten“, sagte die Frau.
„Und dann?“
„Dann ziehe ich mein Nachthemd an und putze Zähne. Gegen 22 Uhr ruft wahrscheinlich meine Freundin an, um mir ‚Gute Nacht‘ zu sagen.“
„Was soll ich nun an den Nachmittagen tun, die ich sonst lesend in deinem Laden verbringe?", fragte Maria und schaltete das Treppenhauslicht an.
„Warum bist du so sicher, dass ich dich nicht wiedersehen will?“